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40 Articles

Naomi Beckwith macht wieder Lust auf documenta

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, da endlich strahlten wieder alle im traumatisierten Kassel. Mit einem Jahr Verspätung, nach Riesenkrach und Strukturkrise, nach Rücktritt der ersten Findungskommission und Berufung einer zweiten konnten die gebeutelten Hessen nun doch eine künstlerische Leiterin für die DOCUMENTA 16 ausrufen, die sich auch zutraut, den nun sportlichen Zeitraum bis zur Eröffnung am 12. Juni 2027 einzuhalten: Naomi Beckwith, Chefkuratorin am GUGGENHEIM MUSEUM in New York. Das klingt tatsächlich nach einer richtig guten Nachricht. Die beiden letzten Leitungen, Adam Szymczyk und ruangrupa, hatten mit utopistischen Ansätzen die Institution an ihre Grenzen gebracht, weil sie die Geister, die sie riefen, am Ende nicht beherrschten. Bemerkenswert wenige ihrer Entdeckungen haben von Kassel aus Karriere gemacht, vor allem Chaos und Parolen blieben im Gedächtnis. Da ist man froh, wenn Naomi Beckwith…

Naomi Beckwith macht wieder Lust auf documenta

Jeder Satz, den Precious Okoyomon von sich gibt, klingt wie Poesie, stellte US-Korrespondentin Claudia Bodin bei ihrer Unterhaltung mit der amerikanisch-nigerianischen Künstlerin fest. Zur Vorbereitung auf das Treffen in Okoyomons Atelier in Brooklyn hatte Bodin auch den neuesten, kürzlich veröffentlichten Gedichtband der Künstlerin, Köchin und Lyrikerin But Did You Die? gelesen. Darunter Verse über Small Talk oder weiße Menschen, die Okoyomon nervös machen. Aber das Treffen mit der 31-Jährigen, die brutale Themen in ihrer Arbeit und im Gespräch gern mit einem unschuldigen Lachen oder kindlichen Symbolen wie Teddybären tarnt, war dann ebenso spannend wie aufbauend. Denn Okoyomon steht für eine neue Generation, die sich im Leben wie in der Kunst konstant daranmacht, Freiräume zu erobern. Die Geschichte über die Künstlerin und ihr Werk lesen Sie ab Seite 36. Franz Gertsch…

ART − DAS DIGITALE MAGAZIN

art gibt es für iPad und iPhone und auch für Android-Smartphone und -Tablet − erhältlich im App Store und im art-Shop. Abbildungen in höchster Auf-lösung erlauben es dem Nutzer, der Kunst ganz nahezukommen. Das digitale Magazin ist im Einzelkauf für 12,99 Euro, im monatlich kündbaren Abo für je 12,99 Euro und im Jahresabo für 11,67 Euro erhältlich. Im Kombi-Abo kostet die digitale Ausgabe für Ihr Tablet und Smartphone monatlich 2,08 Euro zusätzlich zur Printausgabe…

ART − DAS DIGITALE MAGAZIN

Gute Arbeit! »Ich tue mein Herz und meine Seele hinein …« − Till Briegleb über Michaël Borremans (1/2025) Informativ, dicht, tief lotend, danke Till Briegleb für das Interview. Michael Borremans, gute Arbeit! SIGHARD GILLE, LEIPZIG Im Zwiespalt »West-östliche Diva« − Gesine Borcherdt über Semiha Berksoy (1/2025) Die Geschichte über die türkische Opernsängerin hat mich sehr nachdenklich gemacht. Sollte man Menschen, die dem Nationalsozialismus so unkritisch gegenüberstanden wie diese Frau, wirklich so ein großes Forum geben, auch wenn sie künstlerisch interessant sind? Letztlich finde ich: Ja, man kann das machen. Schließlich ist Political Correctness auch kein Garant für hochwertige Kunst. MARIE BRASSE, PER E-MAIL Wimmelbild »Ungewissheit bei Tisch« − Boris Hohmeyers Meilenstein über Paolo Veronese (1/2025) Herrlich, die Beschreibung der skurrilen Figuren auf diesem Wimmelbild! Ich wollte Ihnen immer schon mal…

Konzert in Moll »Die Seele zittert« heißt die große Schau, bei der Chiharu Shiota ihre typischen Großinstallationen aus miteinander verworrenen Fäden auf mehr als tausend Quadratmetern unter dem Dach des Pariser grand palais ausbreiten darf (bis 19. März), und auch hier steht alles wieder im Zeichen ihrer kafkaesken Kunst, mit der sie ihr Publikum stets ins Dickicht zwischen Traum, Erinnerung und Realität führt. Besonders an der Pariser Schau ist, dass die Künstlerin an den Anfang ihrer Karriere zurückgeht und aus eigenen Erinnerungen schöpft: Die düstere Installation mit verbranntem Flügel und schwarzen Fäden etwa zeigte sie erstmals 2002. Nun ist sie erneut zu sehen − als dramatischer Auftakt mit langem Nachhall. Sonniger Sitzkreis Kein überdimensionales Lego-Bild hat Christopher Joshua Benton (*1988) da für die public art abu dhabi biennial gelegt, sondern…

Kunst für eine bessere Welt:

Der Lärm ist ohrenbetäubend: »Eine Fliege macht kein Geräusch. Zehntausende schon.« In einer hellen großen Industriehalle in Augsburg beherbergt Maximilian Prüfer derzeit zehn riesige Kisten mit brummenden, summenden, zirpenden Insekten, die hier konzentriert künstlerisch arbeiten. Auf einer Seite ist jede Kiste mit Papier bespannt, auf dem Prüfer rückwärtig ein Schwarz-Weiß-Motiv aufgebracht hat. Die Sonne erwärmt zuerst die dunklen Töne, und die Fliegen, mit ihrer feinen Sensorik, setzen sich auf diese warmen Stellen. Prüfer hat sie zuvor mit Zuckerwasser gefüttert. Und mit einem Pigment aus Ziegeln und verbrannten Holzstücken, Überreste vom Bombenschutt des Zweiten Weltkriegs, die der 1986 geborene Künstler auf einem Hügel in seiner Heimatstadt Augsburg gesammelt hat. Mit dieser Farbe interpretieren die geflügelten Mitarbeiter die Motive. Monate sind sie beschäftigt mit ihren Ausscheidungen, bis sich etwa ein Kriegskrüppel von…

Kunst für eine bessere Welt:

Aktuell überschätzt:

Mini-Miro«, »Grundschul-Picasso«, »Wunderkind«: Während sich die meisten Siebenjährigen nach der Schule vielleicht gern an ihr »Malen nach Zahlen« setzen oder sich daran üben, ihr Ausmalbuch bunt zu gestalten, hatte Mikail Akar bereits Ausstellungen in ganz Deutschland und hat Gemälde für stolze 16 000 Dollar verkauft und etliche Titelseiten gefüllt. Und das war erst der Anfang einer steilen Karriere, gespickt mit TV-Auftritten und Charity-Galas und gekrönt von der eigenen Galerie − mit gerade mal elf Jahren. Akars Geschichte ist der Raketenstart eines Kinderstars, wie man ihn in der Kunstwelt häufiger sieht, etwa bei Leon Löwentraut, der in den 2010er Jahren in Deutschland eine ähnliche Karriere hinlegte, oder bei Andres Valencia, der in den USA reüssierte und schon mit zehn Jahren bei der art basel miami beach Bilder für sechsstellige Beträge verkaufte.…

Aktuell überschätzt:

Kunst aus dem Off:

Dem Handwerk der Quilts widmeten sich die Amischen erst, als es nicht mehr so recht in Mode war. Denn die aus Süddeutschland, dem Elsass und der deutschen Schweiz stammende täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft, die im 18. Jahrhundert vor allem in den US-Bundesstaat Pennsylvania auswanderte, wo sie nach wie vor nach ihren alten Glaubensregeln lebt, lehnt jede Form der Selbstdarstellung ab. Weil sie Gefühle wie Eitelkeit, Stolz und Überlegenheit hervorrufen könnte. Kunst gilt zudem als verschwenderisch, sodass alles Künstlerische nicht nur dem ästhetischen Vergnügen dienen darf, sondern einen funktionalen Wert haben muss. Da Quilts aber für praktische Zwecke verwendet werden, lagen die Steppdecken der amischen Frauen in einer Grauzone. Und die kunstvollen Garnwerke führen vor, dass sich Kreativität eben doch nicht so einfach bändigen lässt. Mit Kompositionen in harmonisch gedeckten oder leuchtenden Farben,…

Kunst aus dem Off:

Queerness, Diversität und der Reiz des Androgynen: Gertsch malte, wofür es noch kaum Begriffe gab Marina schminkt Luciano, bis er mit seinen langen Haaren einen weiblichen Touch erhält, sie selbst hat ihre Haare wie bei einer Männerfrisur streng nach hinten gekämmt. Sie tragen abgeschabten Fummel und Blusen mit Sternen und Streifen der US-Flagge. Strass und Pailletten funkeln, Brokat, Federboas und Pelze sorgen für ein Feuerwerk von Oberflächen und Farben. Wenn man diese Bilder aus einer Luzerner Wohngemeinschaft am Schweizer Vierwaldstätter See heute betrachtet, könnte man glauben, sie wären erst jetzt gemalt worden. So sehr scheinen sie die Suche nach Identität, das Spiel mit Geschlechterrollen auszudrücken, die heute unter den Schlagwörtern Queerness und Diversität die Gegenwartskunst beschäftigen. Insbesondere der junge Luciano scheint auf diesen Gemälden vom Reiz des Androgynen fasziniert. Gemalt…

Was passiert, wenn sich ein Kunstwerk nicht zähmen lässt? Wenn es sich ausdehnt, wuchert und Raum einnimmt? Die Ordnung stört und lebendig ist? Fragen, die für manche unbehaglich, für andere wiederum hoffnungsvoll klingen. Bei der New Yorker Künstlerin Precious Okoyomon nehmen sie die Form eines Blumenbeetes an, das sie am Seitenflügel des HERBERT F. JOHNSON MUSEUM OF ART auf dem Campus der US-amerikanischen Cornell University gepflanzt hat. Mehr als 90 Pflanzenarten, von der Künstlerin akribisch aufgelistet, kamen zum Einsatz. Darunter der ursprünglich in China oder Japan heimische Korkflügelstrauch, Waldreben aus Neuseeland, aus Nordafrika und Europa stammende Narzissen, Schildblumen aus Nordamerika oder der osteuropäische Sibirische Blaustern. Einige der Pflanzen dominieren den wilden Garten, während andere an den Rand gedrängt werden oder sich in Bodenhöhe behaupten. Für die Kuratorin der Ausstellung, Gemma…

Punkte, Linien, Flächen

Der Punkt ist die innerlich knappste Form. Er ist in sich gekehrt. Diese Eigenschaft verliert er nie in vollem Maße – auch in Fällen seiner äußerlich eckigen Form.« Das klingt im ersten Moment wie eine Geometriestunde bei Loriot oder wie ein heideggerscher Paragraf über die Wesenhaftigkeit des finalen Satzzeichens. Tatsächlich hat hier Wassily Kandinsky die Feder geführt. In seiner Zeit als BAUHAUS-Lehrer legt er 1926 mit seiner Abhandlung Punkt und Linie zu Fläche dar, wie Rechtecke, Kreise und Dreiecke miteinander tanzen und erstarren, flirren und herabsinken, sich nach links oder rechts bewegen, kurz: welche wahrnehmungstheoretischen Grundregeln in der damals gerade mal ein gutes Jahrzehnt währenden Abstraktion zu gelten haben. »Der Inhalt eines Werkes findet seinen Ausdruck in der Komposition, d. h. in der innerlich organisierten Summe der in diesem Falle…

Punkte, Linien, Flächen

VOM BAUM ZUM RAUM

SELBST TERMINALS LASSEN SICH AUS DEM NACHHALTIGEN MATERIAL BAUEN MEHR ALS NUR SPIELEREI: HOLZ IST GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN Auch zwei Jahre nach der Eröffnung riecht es in der Ausstellungshalle der KUNSTHOCHSCHULE KASSEL noch wie beim Schreiner. Die hellen Fichtenhölzer, aus denen der große Kunstraum für Studierende gefertigt wurde, atmen weiter. Anders als in den provisorischen Galerien, in denen sich die rund 1000 Kasseler Auszubildenden früher an Ausstellungen probierten, prägt nicht länger der Hautgout von verschüttetem Vernissagen-Wein und Moderduft aus der Toilette die Anfänge der Kunstentwicklung. In der 450 Quadratmeter großen Halle mit 36 flexiblen Trennwänden ist es vielmehr die subtile Frische von Waldarbeit und Landwirtschaft, die seit Mai 2022 das Experimentieren mit Kunst, Design und Video in eine ungewohnte Aura hüllt. Außen wirkt die neue Halle dagegen wie ein…

VOM BAUM ZUM RAUM

Symbole der Nationalsozialisten

Antisemitismus ist wieder allgegenwärtig, Rechtsextremismus kehrt hemmungslos zurück. Erinnerungen an die Zeit von Nationalsozialismus und Holocaust rücken damit unheimlich nah; dessen Symbole stehen nicht mehr nur für eine Vergangenheit, sondern erscheinen wie Menetekel. Eines dieser Symbole ist die in ihrem menschenverachtenden Zynismus unüberbietbare Losung »Arbeit macht frei«, die am Lagertor in Auschwitz angebracht war. Sie bezieht sich auf den antisemitischen Topos, wonach Juden Arbeit fremd sei, sie nur als Parasiten lebten. Und sie verhöhnt sie, da die einzige Freiheit, die es im KZ gab, der Tod war: Vergasung nach Zwangsarbeit. Diese Losung innerhalb aktueller Auseinandersetzungen wieder aufzugreifen, ist selbst dann heikel, wenn man damit gegen alt-neue Inhumanität protestieren will. Denn schnell entsteht der Verdacht, dass der Schockfaktor des Holocaust nur ausgenutzt, dieser letztlich relativiert wird. Um zu provozieren, eignet sich…

Symbole der Nationalsozialisten

Mensch MASCHINE

ALLES HÄNGT MIT ALLEM ZUSAMMEN, SENSOREN ÜBERWACHEN DEN RAUM UND SCHAFFEN VERBINDUNG ZUR WELT WAS KÜHL UND TECHNOID ERSCHEINT, HAT OFT SENTIMENTALE HINTERGRÜNDE − MANCHMAL AUCH BIOGRAFISCHE JEDES DETAIL VON GOYAS BILDERN WIRD ZU EINEM EIGENEN MALERISCHEN UNIVERSUM Ein Riese mit irrem Blick verschlingt seinen Sohn; zwei einsame Greise schlürfen Suppe; Männer prügeln sich mit Holzknüppeln in karger Landschaft; ein einzelner Hundekopf schaut vom unteren Bildrand hoch in die Leere einer abstrakten Farbfläche ... Insgesamt 14 Bilder gehören zur Serie der Pinturas Negras (Schwarze Gemälde), die ein kranker, tauber und einsamer Francisco de Goya von 1819 bis 1823 direkt auf die Wände seines Landhauses »Quinta del Sordo« (Landhaus des Tauben) malte. Hierhin, südwestlich von Madrid, hatte sich der Maler im Alter von 72 Jahren vom spanischen Königshof zurückgezogen. Die Bilder…

Mensch MASCHINE

Was man geträumt hat, wird sich in Zvavaheras Familie seit Generationen erzählt, zumindest unter den Frauen Hat man gerade tatsächlich gedacht, man sei in den Himmel aufgefahren? Tatsächlich steigt man bloß aus dem Fahrstuhl aus, und hier oben, im Obergeschoss der FONDATION LOUIS VUITTON, sitzt auch niemand zur Rechten Gottes, sondern lediglich ein Museumswärter neben einem Kunstwerk. In dem hohen, apsidial gewölbten Raum tut sich auch nicht etwa ein Flügelaltar auf, wohl aber ein fast 17 Meter breites Wandbild, über dessen gesamte gebogene Breite engelsgleiche Wesen die Besucher mit weit aufgespannten Armen empfangen. Und auch wenn es nur ein paar mit dem Fahrstuhl zurückgelegte Stockwerke sind: Dass man sich dem an diesem Herbsttag wolkenverhangenen Pariser Himmel hier oben tatsächlich irgendwie näher und von gottgesandten Wesen willkommen geheißen fühlt, liegt in…

Sinn und Sinnlichkeit

JEAN FOUQUET DAS DIPTYCHON VON MELUN, UM 1450 Seit etwa 1775 existieren die beiden Tafeln des Diptychons getrennt voneinander in Berlin und Antwerpen Dieses Bild ist ein Schock. Eine Provokation. Unfassbar, wenn man es im Original betrachtet. Leuchtend kühl. Dabei fast gläsern glatt. Im Mittelpunkt, erotisch und unnahbar zugleich, eine Madonna, umgeben von Seraphim und Cherubim. Ob sie steht oder sitzt, lässt sich nicht ausmachen. Die Haut milchweiß, das Gesicht von wächserner Perfektion, die linke Brust, prall und rund, drängt entblößt aus dem geschnürten königsblauen Kleid. Das Kind auf ihrem Schoß scheint fast von den Falten ihres Mantels zu rutschen. Die Engel treten dahinter zurück. Die roten Seraphim halten den Himmelsthron, die blauen Cherubim schweben anbetend hinzu. Monochrom bilden sie ein Fläche aus lackierten Leibern, ein nahezu abstraktes Formenspiel hinter…

Sinn und Sinnlichkeit

Wenn Wuffi von hinten grinst

Selbstbewusst blickt uns der kleine Hund mit frecher Scheitelfrisur auf dem Gemälde von Josefine Schulz an. Als hätte er sich für das Porträt extra rausgeputzt, trägt er rote Stiefelchen, die vor dem hellblauen Hintergrund zu strahlen scheinen. Milky ist sein Name – und er ist nicht allein. In ihrem Atelier erweckt Schulz aktuell ganze Rudel dieser süßen Fellfreunde zum Leben: Meist in knalligen Farben und flächigen Kompositionen essen sie Spaghetti, liegen unter Palmen oder lassen entspannt die Zunge aus dem Maul hängen. Doch Josefine Schulz malt keine Schoßhündchen, sondern tierische Individuen, die den Bildraum für sich erobern – wie auf Team. Dort haben sechs Hunde an einem Picknicktisch Platz genommen, als posierten sie für ein schnelles Ausflugsfoto. Teilweise treten Schulz’ Hunde sogar aus der Fläche heraus und erklären als frei…

Wenn Wuffi von hinten grinst

Es war einmal in Amerika

VORBERICHT Eine Serie von Aktaufnahmen aus dem museum of fine arts boston, auf den ersten Blick könnten sie von Irving Penn stammen, dem 2009 verstorbenen Mode- und Porträtfotografen. Aber die Bilder sind weitaus älter: Fotografiert hat sie Charles Sheeler, und zwar bereits 1918/19. »Sie wirken so unglaublich modern!«, staunt Kuratorin Mattie Boom vom Amsterdamer rijksmuseum. Die Aktbilder gehören zu den Überraschungen der von ihr zusammengestellten Übersichtsausstellung »American Photography«, die sich der Entwicklung der amerikanischen Fotografie widmet − angefangen bei den allerersten, um 1840 entstandenen Daguerreotypien bis hin zu zeitgenössischen Arbeiten wie den Nightscapes, mit denen Dawoud Bey (*1953) die Fluchtrouten versklavter Vorfahren nachzeichnet. Die Schau umfasst mehr als 200 Arbeiten, darunter nicht nur große Namen wie Edward Weston, Aaron Siskind, Paul Strand, Diane Arbus oder Nan Goldin, sondern auch Beispiele…

Es war einmal in Amerika

Von Paaren und Ketzern

VORBERICHT Wenn wir heute lesen, dass ein Museum die Rückseiten von Bildern ausstellt, denken wir meistens an problematische Provenienzen wegen eines verfolgungsbedingten Entzugs in der NS-Zeit und erwarten, etwas über die oft lückenhafte Geschichte der Besitzerwechsel zu erfahren. Das kunstmuseum basel spielt mit seinem Ausstellungstitel »Verso. Geschichten von Rückseiten« mit dieser Erwartung, lenkt sie dann aber in eine andere Richtung: Gezeigt werden 36 Kunstwerke, deren Rückseiten selbst künstlerisch gestaltet wurden, also Doppelbemalungen, wie man sie quer durch die abendländische Malerei kennt. Der Zeithorizont ist dabei nicht ganz so weit gespannt. Bodo Brinkmann, Sammlungskurator für Altmeister am Haus, gönnt sich vor dem Ruhestand in seiner Abschiedsausstellung aus den reichen Beständen des Basler Hauses eine Auswahl aus seinem Kerngebiet: Die Spanne reicht vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Stars wie Hans Baldung…

Von Paaren und Ketzern

Revue der Kältebilder

VORBERICHT Eigentlich ist es im Winter schon kalt genug. Weil die Schweiz aber ihre Berge liebt und fürs Skifahren immer noch klaglos jede Summe ausgibt, passt diese Ausstellung bestens zur Jahreszeit und zum Land: »Nordlichter« versammelt rund 70 Landschaftsgemälde von 13 Künstlerinnen und Künstlern aus Skandinavien, Finnland und Kanada, die Schnee und Eis geradezu feiern und die Betrachter den Schal enger wickeln lassen. Landschaftsmalerei wird in der fondation beyeler immer wieder mit Ausstellungen gefeiert. Bisher ging der Blick aber eher in wärmere Gefilde, Giovanni Segantini und Claude Monet wurden gezeigt. Jetzt erinnert man sich an die eigene Edvard-Munch-Ausstellung von 2007. Der Norweger ist denn, neben der vor geraumer Zeit wiederentdeckten Hilma af Klint, auch der Star der Ausstellung von Werken, die zwischen 1880 und 1930 entstanden sind. Hat er doch…

Revue der Kältebilder

Natur im Blasebalg

VORBERICHT Ein wenig ähnelt Axel Hütte den Pionieren der frühen Fotografie, die mit geschulterten oder auf den Rücken von Lasttieren gebundenen Plattenkameras die Welt bereisten, um mit Aufnahmen ferner Landschaften und nie gesehener Weltwunder heimzukehren. Seine Bilder entstehen im Inneren einer Großbildkamera, bei der Objektiv und lichtempfindliche »Platte« durch ein faltbares, einem Blasebalg nachempfundenen Gehäuse verbunden sind. Im Sucher stehen die Motive wie zu Urgroßvaters Zeiten auf dem Kopf, oft ist Hütte tagelang zu Gletschern, Berggipfeln oder in ähnlich unwirtliche Gegenden unterwegs. Wenn es dem Bild nützt, geht der 1951 in Essen geborene Absolvent der Becher-Schule aber mit der modernen Zeit und fotografiert eine Landschaft im Nebel aus dem Hubschrauber heraus. Ein Traditionalist ist Hütte dann wieder im Atelier. Anders als sein bekannterer Mitschüler Andreas Gursky bearbeitet Hütte seine Aufnahmen…

Natur im Blasebalg

Ungeheuer in den Untiefen

VORBERICHT Das berühmteste ihrer Bilder ist nach einem Ungeheuer benannt: Scylla (1938), ein mystisches Monster mit sechs Köpfen, das in der Meerenge von Messina hausen soll. Doch Ithell Colquhouns Gemälde zeigt nur auf den ersten Blick eine schroffe Meereslandschaft. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die beiden miteinander verwachsenen Felsen als gegeneinandergelehnte Knie, die aus dem Wasser auftauchen. Seegras umwogt den Schambereich in den Tiefen − es ist der Unterleib der Künstlerin, ein Selbstporträt ihres Körpers in der Badewanne, den sie hier präsentiert. Scylla markiert in Colquhouns Schaffen nicht nur die Transformation einer realen in eine anthropomorphe Landschaft, sondern auch einen Wendepunkt in ihrem Schaffen: die Hinwendung vom magischen Realismus zum Surrealismus. Noch immer ist die 1906 in Assam, Britisch-Indien, geborene britische Malerin eine der großen Unterschätzten des Surrealismus. Die tate…

Ungeheuer in den Untiefen

Sie pfeifen auf Zwänge

VORBERICHT Künstlerinnen, meinte Karl Scheffler, sind krank und pervers. Er war vor 100 Jahren einer der einflussreichsten Kunstkritiker in Deutschland. Und da er Frauen geistig Kindern gleichstellte, konnten sie aus seiner Sicht auch nicht abstrakt denken. Wie sollten sie also etwas zur abstrakten Kunst beitragen? Die hanebüchenen Thesen von Scheffler kann man nun im saarlandmuseum nachlesen, um dann vom Gegenteil überzeugt zu werden. »RADIKAL!« versammelt mehr als 60 Künstlerinnen, die zwischen 1910 und 1950 die Moderne maßgeblich vorantrieben und, so die Kuratorin Kathrin Elvers-Svamberk, »sehr kühn und unorthodox dazu beigetragen haben, die Techniken zu erweitern und neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden«. Es ist ein gigantisches Projekt, für das mehrere Jahre in Saarbrücken, im museum arnhem und dem belvedere museum in Wien geforscht wurde, um neue Blicke auf die Kunstgeschichte jenseits der…

Sie pfeifen auf Zwänge

Zurück zum Absender

VORBERICHT Jedes Jahr werden Millionen Tonnen Elektroschrott, Altkleider und anderer Wohlstandsmüll aus Europa nach Afrika verschifft, wo sie im besten Fall wiederverwendet, in der Regel aber zum giftigen Umweltproblem werden. Manche nennen das Neokolonialismus, weshalb eine schöne Ironie darin liegt, dass mittlerweile wenigstens ein kleiner Teil der europäischen Müll- und Billigexporte zu Kunst veredelt (und deshalb mit horrenden Preisaufschlägen) aus Afrika an die Absender zurückgeht. Am bekanntesten sind El Anatsuis aus Flaschenverschlüssen gefertigte Wandteppiche, aber die großflächig verklebten Büstenhalterbänder-Bilder, die Kresiah Mukwazhi produzieren lässt, werden in Museen und auf Messen ebenfalls gut nachgefragt. Auch der äthiopische Künstler Elias Sime wurde in Europa mit dem Upcycling ausrangierter Werkstoffe bekannt. 2022 zeigte er auf der biennale in Venedig farbige Reliefs verflochtener Elektrokabel, seitdem eilt der 1968 geborene Objektkünstler von einer Premiere zur…

Zurück zum Absender

Frauen in Montage

VORBERICHT Diese Frau ist Punk. War sie schon immer. Und ist sie noch: mit inzwischen 70 Jahren. Die britische Künstlerin Linder Sterling, die sich selbst nur Linder nennt, betritt die Kunstszene 1977 mit einer Collage für die Single Orgasm Addict der britischen Band Buzzcocks. Darauf zu sehen: ein nackter weiblicher Körper − scharf mit dem Skalpell umrissen. Die Brustwarzen sind mit zähnefletschenden Mündern bedeckt, der Kopf ist durch ein Bügeleisen ersetzt. Linder entlarvt in ihrer bitterbösen Collage, wie Werbung und Lifestylemagazine dieser Zeit die Frauen auf genau zwei Funktionen reduzieren: Hausarbeit und Sex. Die hayward gallery in London setzt der kompromisslosen Künstlerin nun mit einer großen Werkschau ein Denkmal. Die erste große Retrospektive richtete ihr schon 2013 das musée d’art moderne in Paris aus. Doch Linders Kunst trifft auch heute…

Frauen in Montage

Ein Meer von Blackness

VORBERICHT Der US-Amerikaner Arthur Jafa ist innerhalb weniger Jahre zu einem der einflussreichsten Künstler der Gegenwart geworden. Wie kein anderer versteht er es, in seinen oft an Videoclips erinnernden Filmen die soziale und politische Wirklichkeit in den USA mit der Wucht massenmedialer Bilder darzustellen. Geboren 1960 in den Südstaaten, heute in Los Angeles lebend, bedient er sich in der Bilderflut des Internets und dreht meist nicht selbst, sondern schneidet sein Material im Rhythmus populärer schwarzer Musik, von Rap und Blues bis Gospel. Zentrales Thema seiner Kunst ist »Blackness«, die Suche nach einer identitätsstiftenden schwarzen Kultur der Afroamerikaner, deren Bedeutung und Auswirkung auf die weiße Kultur vergleichbar wären mit dem Jazz. Jafas Filme sind weder verführerische Netzhautkitzler noch sind sie konzeptuell verrätselt − sie gehen unter die Haut. Die Pariser bourse…

Ein Meer von Blackness

Durchwühlte Unschärfen

VORBERICHT Mehr als 40 Jahre sah sich Bracha Lichtenberg Ettinger nicht in der Lage, ihre Bilder in Deutschland zu zeigen, doch jetzt stellt die kunstsammlung nrw im k21 als erstes deutsches Museum endlich ihr Werk vor. Vier Jahrzehnte, in denen die Künstlerin, geboren 1948 in dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, vor allem zwischen Paris und Tel Aviv pendelte. Betont langsam − die Israelin liebt und lebt »Entschleunigung« − eroberte sie für ihre Malerei eine marktferne Nische. Jedes ihrer Bilder überschreitet die ohnehin unscharfen Grenzen zwischen Tradition und Erneuerung, Psychoanalyse und Philosophie. Eine schwierige Malerei, die weder vor Neuland noch vor Tabus zurückschreckt. Nach einem Psychologiestudium in Jerusalem und London widmete sich Bracha Lichtenberg Ettinger ab 1981 in Paris ganz der Malerei. Erste Großformate brachten sie in gefährliche Nähe zu einer…

Durchwühlte Unschärfen

AUSSTELLUNGEN DER KALENDER

Aarhus Igshaan Adams – Weerhoud Die Ausstellung widmet sich den textilen Installationen und raumgreifenden Projekten des südafrikanischen Künstlers Igshaan Adams (*1982). Adams’ Kunst thematisiert Herkunft, Religion und Sexualität und verbindet Naheliegendes, Entferntes und scheinbar Widersprüchliches → SIEHE ART 1/25 ARoS Aarhus Kunstmuseum, Aros Allé 2, Di–Fr 10–21, Sa, So bis 17 (18.1.–3.8.2025) Ahlen Konkrete Frauen. Neue Räume. Hellweg Konkret III Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen raumbildende Qualitäten in Malerei, Zeichnung, Skulptur, Installationen und Textilkunst artCard Kunstmuseum, Museumsplatz 1, Mi–Fr 15–18, Sa, So 11–17 (16.2.–15.6.2025) Alkersum/Föhr Momente der Klarheit. Janus la Cour und das neue Bild der Natur Die Ausstellung beleuchtet das Werk des dänischen Landschaftsmalers Janus la Cour (1837–1909) und wird um zeitgenössische Perspektiven von Per Kirkeby (1938–2018) und Sven Drühl (*1968) ergänzt artCard Museum Kunst der Westküste, Hauptstraße 1,…

AUSSTELLUNGEN DER KALENDER

»Du selbst bist die Macht«

Dass der israelische Pavillon auf der letzten BIENNALE in Venedig die ganze Zeit geschlossen bleiben würde, hätte Ruth Patir nicht gedacht – und doch war es die Bedingung der israelischen Künstlerin: Solange die Geiseln des 7. Oktober 2023 nicht befreit wären und es keinen Waffenstillstand in Gaza geben würde, sollte man ihre groß angelegte Videoinstallation (M)otherland nur von außen durch die Scheiben sehen können. Dem Publikum entging damit der wohl wichtigste und zugleich auch eindringlichste Beitrag einer BIENNALE, die den »globalen Süden« feierte und Aufrufe zum Boykott des israelischen Pavillons gestattete. Nun hat das JEWISH MUSEUM in New York Patirs Arbeit gekauft, wo sie 2025 präsentiert werden soll. Erstmals öffentlich gezeigt wird (M)otherland vorher noch im März im TEL AVIV MUSEUM OF ART, dessen leitende Kuratorin Mira Lapidot mit ihrer…

»Du selbst bist die Macht«

Ungeliebtes Understatement

In jedem Fall verkennt die Lust auf Neues den hohen Wert des Bestehenden Am Anfang stand eine Geschäftsidee. Im Sommer 2022 boten der Speditionsmilliardär Klaus-Michael Kühne und der Investor René Benko der Stadt Hamburg an, in der Hafencity ein neues Opernhaus zu errichten und im Gegenzug das alte für ein eigenes Projekt abzureißen. Dieser Plan hat sich spätestens mit der Insolvenz von Benkos Signa Holding erledigt, doch der mittlerweile 87-jährige Kühne hat die Opern-Vision lieb gewonnen: Auch ohne den Grundstückstausch drängt er auf den Neubau und stellt dafür 300 Millionen Euro aus seiner Stiftung in Aussicht. Das Vorhaben, versicherte er jüngst, werde nur noch von »bürokratischen Auflagen« gebremst. Was die örtliche Presse als Geschenk preist, das den neuen Stadtteil am Wasser weiter aufwerten würde, verbindet in Wahrheit kaum kalkulierbare Kosten…

Ungeliebtes Understatement

Auf null gesetzt

Wenn Stadtkämmerer über die Kultur reden, haben sie in der Regel Kürzungen im Sinn. Das war auch nicht anders bei Dörte Diemert, der obersten Finanzverwalterin in Köln, als sie den Haushalt für die Jahre 2025/26 vorstellte. Allerdings klang die übliche Drohung alles andere als routiniert. Diemert malte ihren Zuhörern eine nahe Zukunft aus, in der die Kölner Straßen und die Schätze der Museen nicht mehr den Bürgern, sondern den Gläubigern der Stadt gehören. Mit dieser Sorge ist die Kölner Kämmerin nicht allein. Während der Bund seinen Kulturetat für 2025 sogar leicht erhöhen wollte, stehen der Kultur auf kommunaler Ebene mutmaßlich lange Sparrunden bevor. Unter den Städten in Nordrhein-Westfalen hat ein ausgeglichener Haushalt mittlerweile Seltenheitswert, in den anderen Bundesländern sieht es nicht viel besser aus. Die Lösung liegt darin, Gebühren zu…

Auf null gesetzt

Venedig. Die nächste biennale in Venedig findet unter der künstlerischen Leitung von Koyo Kouoh statt. Die 1967 in Kamerun geborene Kuratorin ist seit 2019 Geschäftsführerin und Chefkuratorin des zeitz museum of contemporary art africa (zeitz mocaa) in Kapstadt. Zuvor war sie Gründungsdirektorin der raw material company, eines Zentrums für Kunst, Wissen und Gesellschaft in Dakar, sowie Teil des Kuratorenteams der documenta 12 (2007), der documenta 13 (2012) und Mitglied der Findungskommission für die documenta 14 (2017). 2020 wurde Kouoh mit dem schweizerischen Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet. Die 61. biennale di venezia eröffnet im Frühjahr 2026. Merkur. Ein Krater auf dem Merkur wurde nach der japanisch-US-amerikanischen Bildhauerin Ruth Asawa (1926 bis 2013) benannt. Die Arbeitsgruppe für die Nomenklatur des Planetensystems der International Astronomical Union (IAU) erwies in ihrer neuesten Benennungsrunde im…

Versteckte Eroten

Bei Wartungsarbeiten hat ein Elektriker in der römischen Villa Farnesina, dem schönsten Beispiel für eine Stadtvilla im Stil der Hochrenaissance, bisher verborgene Deckenfresken entdeckt. Als er durch eine Luke in den Zwischenraum über dem Gewölbe des Hauptsaales stieg, sah er im Schein seiner Taschenlampe eine idyllische Landschaft und einen strahlend blauen Himmel, an dem Scharen von wohlgenährten Putten um ein großes, in einen Kranz von Blumen und Blättern gebettetes Wappen flogen. Die heraldischen Symbole der sechs blauen Lilien auf goldenem Grund verweisen auf die Adelsfamilie der Farnese, und damit ist auch klar, dass die Fresken nicht zur Erstausstattung der Villa gehören, sondern Ende des 16. Jahrhunderts entstanden sein müssen, als der Kardinal Alessandro Farnese den Palast erwarb. Welcher Künstler die Malereien ausgeführt hat, ist noch nicht geklärt. Er war ganz…

Versteckte Eroten

Monströs. Diktatoren und Despoten weltweit vereint ihr Hang zu Kitsch und Bombast Warum hat das Böse immer so einen schrecklichen Geschmack? Das syrische Scheusal Baschar al-Assad, das mit Folter, Gas und Krieg sein Volk dezimierte, lebte bis zum 8. Dezember 2024 auf 31 500 Quadratmeter Schurkenprotz, verkleidet mit Carrara-Marmor. Sein Palast in Damaskus, den sich sein Vorbild im Menschenschlachten, Vater Hafis, ab 1985 vom japanischen Stararchitekten Kenzo Tange hatte bauen lassen, ist monströse Überwältigungsarchitektur, wie sie so typisch ist für Männer im Führerwahn. Außen völlig unproportionierte Bubenträume von Märchenschlössern, mal in Pseudomodern, meist in Sultans-Nostalgie. Innen endlose Wege in hallenden Hallen, wie schon bei Hitlers Neuer Reichskanzlei, dazu viel Leere, dekoriert mit Folklorekitsch. Bei Saddam Husseins Palast in Bagdad oder Muammar al-Gaddafis Goldkuppelresidenz in Tripolis war es das gleiche Bild.…

Schöne neue Welt

Bei der aus Marmor gearbeiteten Skulptur entschied sich Alexander Reben für ein körperlich perfektes, gesichts- und geschlechtsloses, roboterartig aussehendes Wesen. Der 39-Jährige, ein Künstler und Ingenieur, der Roboter für die NASA gebaut hat und am Media Lab der Zukunftsschmiede MASSACHUSETTS INSTITUTE OF TECHNOLOGY (MIT) studierte, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Technologie. Sein Marmor-Alien ist das Ergebnis einer dreimonatigen Gastkünstlerschaft, zu der Reben als erster Künstler von dem kalifornischen Unternehmen OpenAI eingeladen wurde. OpenAI steckt hinter dem KI-Chatbot ChatGPT und dem KI-basierten System zur Bildgenerierung DALLE-E. Offen bleibt, ob OpenAI mit der Residenz reines Marketing betrieben hat und eine Künstlergemeinde beschwichtigen will, die befürchtet, dass ihre Arbeit ohne Erlaubnis, Bezahlung oder Anerkennung für die Ausbildung von KI-Systemen verwendet wird. In einer Zeit, in der die künstliche Intelligenz rasante Fortschritte…

Schöne neue Welt

Ausstellungen zählen im schweizerischen St. Moritz oder in Aspen, Colorado, längst zum Après-Ski-Programm für betuchte Sammler. Darüber hinaus haben schneebedeckte Berge und Wintersport sonst in aller Regel nicht viel mit der Kunst gemein. Doch in dem Skigebiet Powder Mountain im US-Bundesstaat Utah hat Reed Hastings, Co-Gründer des Streaming-Giganten Netflix, damit begonnen, eine besondere Form von Freiluftmuseum aufzubauen. Ein Spaziergang durch den Skulpturenpark STORM KING ART CENTER in Upstate New York beeindruckte Hastings dermaßen, dass der Milliardär beschloss, in einem Teil des Ski- und Wandergebiets, das er 2023 hauptanteilig gekauft hat, einen der Öffentlichkeit zugänglichen Kunstparcours anzulegen. Die Werke werden einer von ihm gegründeten gemeinnützigen Organisation gehören. Die Kunstinitiative soll natürlich nicht nur der Öffentlichkeit dienen Los ging es mit zwei Installationen: Das Künstlerduo Gerard & Kelly verzierte das Dach eines…

Die Benettons stifteten sechs Millionen Euro, woraufhin der Denkmalschutz gelockert wurde Der in ein Luxuskaufhaus verwandelte Fondaco dei Tedeschi in Venedig steht mit 100 Millionen Euro Verlust vor dem Aus, die 226 Angestellten wurden entlassen, und im September läuft der Mietvertrag mit Benetton ab. Für den Fondaco wiederholt sich eine alte Geschichte. Als Niederlassung deutscher Kaufleute erlebte er im 13. Jahrhundert seine Glanzzeit, verfiel aber, als es mit der Vormachtstellung Venedigs vorbei war und viele Lagerhäuser dichtmachten. Es fand sich dann lange keine Nutzung, bis der mächtige Palazzo 1870 als Sitz der Hauptpost wieder eine wichtige öffentliche Funktion bekam. 2008 verkaufte die Post das Gebäude für 53 Millionen Euro an die Benetton-Familie, die der Stadt Venedig sechs Millionen Euro stiftete, woraufhin die Normen für den Umbau des denkmalgeschützten Gebäudes gelockert…

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, deren Geschichte man immer wieder hören, lesen und erzählen kann, weil sie so vielschichtig, facettenreich und epochal sind. Meret Oppenheim ist so ein Fall. Ihr Leben umspannt das 20. Jahrhundert, ihr Wirkungsfeld die Hotspots der Moderne und ihr Freundeskreis das Who’s who der Surrealisten. Wandlungen ist eine gut lesbare und detailreiche Biografie, die Oppenheims Leben in den Mittelpunkt stellt, das Werk nicht vernachlässigt und die Frau als eine Künstlerin feiert, die ein Werk hinterlassen hat, das weit über ihre ikonische Pelztasse hinausgeht. Die nächste Biografie ist weitaus skurriler und der Contessa di Castiglione gewidmet, einer italienischen Adligen in geheimer Mission am Hofe Napoleons III., mit dem sie 1856/57 eine Affäre hatte, um ihn für die Unabhängigkeit Italiens zu gewinnen. Die zahlreichen Fotografien aus der Mitte…

№3 erscheint am 21. Februar 2025

Japanische Fotografinnen Die japanische Fotoszene ist eine der besten der Welt — und wird wie die meisten anderen von Männern dominiert. Eine Schau in Den Haag entdeckt jetzt die weibliche Sicht: extrem spannend! Marisa Merz Mit ihren poetischen, spielerischen und experimentellen Arbeiten war die italienische Künstlerin eine wichtige Protagonistin der Arte Povera. Ein Porträt Berlinde De Bruyckere Die virtuosen Arbeiten der Belgierin haben die existenzielle Wucht mittelalterlicher Skulpturen und sind doch radikal zeitgenössisch. Ein Besuch im Atelier zur großen Ausstellung in Brüssel Glitzer Glimmer bringt Glamour! Eine Schau in Hamburg erkundet funkelnde Phänomene in Konsum, Pop- und Hochkultur AUSSERDEM Essay zur Biene in Kunst und Wissenschaft. Porträt des Wiener Ornament-Genies Dagobert Peche. Reportage aus Warschau. Tilman Riemenschneider als Meilenstein…

№3 erscheint am 21. Februar 2025

Kinder erklären Kunst:

Zuerst sehe ich ganz viele verschiedene Hüte auf dem Bild und ganz viele verschiedene Menschen. Oder nein, warte mal, da ist auch ein Skelett mit Hut und offenem Mund und ein Clown und eine Kasperpuppe. Sind das Menschen? Eine Frau trägt eine Puppe auf dem Arm. Oder ist das ein Kind? Die Leute sehen alle ganz gruselig aus, die Gesichter sind schrecklich. Mir gefällt das Bild nicht. Ich finde es unheimlich. Trotzdem muss ich da irgendwie hingucken. Diese Menschen oder auch nicht Menschen haben ganz bunte Sachen an, vielleicht sind das Kostüme. Ich glaube, die sehen alle so gruselig aus, weil sie so komische, offene Münder haben und komische Augen, die aussehen wie von Puppen. Besonders die Frau mit dem weißen Hut in der Mitte sieht unheimlich aus – als…

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